Susanna im Bade - Nachzeichnung und aktuelle Bezüge einer alten Geschichte von sexueller Belästigung und deren populistischer Funktionalisierung

Susanna im Bade – Nachzeichnung und aktuelle Bezüge einer alten Geschichte von sexueller Belästigung und deren populistischer Funktionalisierung

Unser Freund Michael Bergmann überraschte uns beim Meeting mit einem spannenden Vortrag über die biblische Susanna. Durch eine Kunstausstellung im Wallraf-Richartz- Museum 2022-23 in Köln ist er auf das Sujet gestoßen.

Die Geschichte der Susanna und den beiden Alten geht zurück auf die griechische Übersetzung des alttestamentarischen Buches Daniel. Sie gehört zum Kanon heiliger Schriften des Judentums. Es folgt später die Vulgate auf Lateinisch und die Erzählung von Susanna im Bade wird Teil der westkirchlichen Bibeltradition. Sie wird unter die „Apokryphen“ eingeordnet.

Michael zeichnet die Rezeption der Geschichte Susannas eindrücklich als Missbrauchsgeschichte nach, die leider auch heute noch aktuell ist:
Wir befinden uns in der Zeit um Christi Geburt in Palästina. In einer jüdischen Gemeinde mit Selbstverwaltung und eigener Justiz lebt Susanna als Frau eines reichen Kaufmanns. Sie geht in ihrem Park spazieren. Zwei Richter – Honoratioren der Stadt – bedrängen Sie und versuchen sie zu zwingen, ihnen zu Gefallen zu sein. Susanna lehnt das ab und die Richter beschließen, sie deshalb zu Tode zu bringen. Sie zerren sie mit ihren vier Kindern vor das Gericht der Israeliten in der Synagoge und beschuldigen sie des Ehebruchs mit einem jungen Mann im Park. Die gesamte Versammlung glaubt ihnen, da die Ältesten hoch angesehene Richter des Volkes waren. Aufgrund der Autorität der hoch angesehenen Richter des Volkes wird Susanna zum Tode verurteilt. Auf dem Weg zur Hinrichtung erscheint ein Engel, der dem jungen Daniel eingibt, er möge sich für Susanna einsetzen. Daniel ermahnt die Israeliten, nicht zu glauben, dass die Ältesten nicht lügen würden. Er werde sie nun getrennt voneinander verhören. Er fragt erst den Älteren, unter welchem Baum denn der Ehebruch vollzogen worden sei: unter einem Mastixbaum. Der Jüngere sagt: unter einer Eiche. Die Falschaussage ist offensichtlich, die Alten werden geknebelt und zum Tode durch die Steinigung verurteilt und in eine Schlucht gestoßen. In dieser Geschichte lobt der Verfasser die jüngere Generation und übt Kritik an den korrupten Alten.

Die Parallelen zur Me Too-Diskussion sind erstaunlich: Ein Publikum, das über die schlussendliche Enthüllung der Wahrheit staunt. Es ist jene Versammlung von Menschen, darunter Susannas Familienangehörige, wie auch die Öffentlichkeit heute, die mit Verblüffung und Dankbarkeit auf die Entlarvung der erpresserischen und verleumderischen Alten reagiert. Diese vorchristliche – vielleicht älteste Kriminalgeschichte der Welt – schildert eine mit brutalsten Mitteln versuchte sexuelle Nötigung. Die lebensräumliche Nähe zwischen den Tätern – zwei Richter, Freunde des Hauses und der Familie – und ihrem Opfer, sowie das schamlos ausgebeutete Machtgefälle entsprechen heutigen Mustern. Auch die resultierende Gerichtsverhandlung und die detektivische Aufklärung durch Daniel erinnern an Schlagzeilen der jüngsten Vergangenheit. Spätestens seit 1500 wurde diese Geschichte zu einem der beliebtesten Bildthemen.

Zurück zur Rezeptionsgeschichte:
In einer anderen Erzählung ist Judäa Teil der römischen Provinz Syrien und unterliegt römischem Recht, mit der Ausnahme innerjüdischer Angelegenheiten. Eine Kritik an der eigenen korrupten politischen Elite, wie in der ersten Fassung, erübrigt sich daher.

In der alten Kirche wird die Geschichte allegorisch verbrämt. Der junge Daniel wird zum 12 – jährigen Jesus im Tempel und die 12 beiden „Alten“ mutieren zu den ständigen äußeren Feinden der Kirche: den Juden und den Heiden.

In der Rechtsgeschichte spielt Susanna eine große Rolle, da erstmals das Prinzip der unabhängigen Befragung von Zeugen eingeführt wurde. In der bildenden Kunst wird das Sujet der „Susanna im Bade“ seit Jahrhunderten benutzt. Es stellt einen legitimen Anlass dar, zu einem biblischen Thema Aktdarstellungen zu malen.

Um 1508 schafft Lucas von Leyden einen Kupferstich, der den Bedarf nach einem erotischen Bild bedient. In einer bildlichen Zote wird ein junger Ältester gezeigt, der nach einem aufsteigenden Ast greift – wie nach seiner eigenen Erektion. Susanna ist bekleidet in der Ferne als voyeurhaftes Objekt der Begierde. Georg Pencz schafft um 1532 einen Kupferstich, auf dem am rechten Bildrand als pornographisches Vexierspiel der Baum als Phallus und die aufgeplatzte Rinde als Vulva lesbar sind.

Ganz anders ist der Blickwinkel der Malerin Artemisia Gentileschi, die ihre eigenen Erlebnisse und traumatisierenden Erfahrungen in den Vordergrund stellt (Artemisia Gentileschi, 1610, Susanna und die Alten). Artemisia Gentileschi wurde am 08. Juli 1593 in Rom geboren und starb 1653 in Neapel. Sie war eine italienische Barockmalerin und gilt als bedeutendste Malerin ihrer Epoche. Die fast 18 Jahre alte Artemisia Gentileschi wird von Agostino Tassi, einem Freund und Malerkollegen ihres Vaters gewaltsam entjungfert. In dem erst 8 Monate später angestrebten Prozess wegen des Stupro wird Artemisia zur „Wahrheitsfindung“ der Folter unterzogen. Der Zeitverzug beruhte zum einen auf dem Wunsch nach einer Heirat um dadurch das Verbrechen zu heilen und zum anderen auf dem Bestehen des Vaters Orazio die Geschäftsbeziehung zu Tassi aufrecht zu erhalten. Seit 1618 unterhält sie ein leidenschaftliches, außereheliches Liebesverhältnis und lebt nach der Trennung von ihrem Mann ein selbstbestimmtes Leben als alleinerziehende Mutter, absolut ungewöhnlich in der damaligen Zeit. Ihre erste Darstellung der Susanna entsteht 1610. Der qualvolle Ausdruck ihres Gesichts, mit dem sie sich zur Wehr setzt, mag Ausdruck ihres eigenen Vergewaltigungserlebens sein.

Ob man in ihren Bildern eine frühe Form unserer heutigen Me Too-Debatte erkennen will, bleibt dem Betrachter und seiner Interpretation überlassen.

Antijudaismus und Antisemitismus am Beispiel von Pietro della Veccia (1650, Susanna und die Alten): Im Laufe der Jahrhunderte wird aus der jüdischen Susanna eine christliche Susanna. Die sie bedrängenden Alten werden in Kupferstichen und Gemälden als Richter, reiche Kaufleute bis hin zu Juden dargestellt. Auf dem Bild von Pietro della Veccia sehen wir zwei lüsterne Alte, die durch Hakennase und Kopfbedeckung eindeutig als jüdisch zu erkennen sind. Auch auf dem Bild von Antonio Leoni aus dem Jahr 1704 erkennt man die aggressiven lüsternen Alten als jüdisch. Hier ist die Darstellung der Susanna von Erotik weit entfernt. Sie lässt sich über 2.000 Jahre auch als eine Geschichte des Antisemitismus lesen.

Kommen wir zur nahen Vergangenheit und Gegenwart, zu Alfred Hitchcock und seinem Film „Psycho“. Vor der berühmten Duschszene wird Marion (Janet Leigh) beim Auskleiden von Alan Bates (Anthony Perkins) voyeurhaft beobachtet. Um Marion beobachten zu können, muss Alan Bates ein Bild von der Wand nehmen, um durch ein Loch schauen zu können. Und siehe da! Es ist eine Susanna – Darstellung von Willem van Mieris aus dem Jahre 1731.

Marion wird dann unter der Dusche blutrünstig ermordet und stirbt mit dem typischen Susanna Gestus, dem hoch erhobenen, abwehrenden Arm. Bald nach Alfred Hitchcocks Tod wurden schwerwiegende Anschuldigungen durch die Schauspielerin Tippi Hedren („Die Vögel“, „Marnie“) bekannt. Sie warf dem mächtigen Regisseur ein absolut inakzeptables Verhalten vor, das in fataler Weise an Susannas Nötigung durch die beiden Alten erinnert.

Dieser Ausflug in die Kultur- und Kunstgeschichte gibt uns einen kleinen Einblick in das Verhältnis zwischen Mann und Frau über die Jahrhunderte. Die Nackte im Garten war erotische Erbauung, mittelalterlicher Porno und moralisierendes Entrüstungsinstrument zugleich. Die Me Too-Debatte lässt sich nicht einfach auf die Vergangenheit projizieren, gleichwohl sind einige Analogien sehr gut erkennbar, allen voran das Ausnutzen männlicher Gewalt begünstigt durch großes Machtgefälle und Abhängigkeiten.